5/27/2010

Die Mitte vom Ende

In den letzten Tagen war meine tiefe Besorgnis angesichts der langen Reihe von seltsamen Ereignissen rund um meinen Umzug reger Betriebsamkeit gewichen. Wie immer hatte ich die Dinge zu lange aufgeschoben und war nun so unter Zeitdruck geraten, dass ich schlicht keine Zeit mehr hatte, mir Sorgen zu machen. Zwei Tage noch - am Samstag würde ich umziehen. Das Radio mit Hotel California stellte ich einfach nicht mehr an, Briefe waren keine mehr gekommen, und vielleicht ließ sich die Sache mit dem Westerwelle-Cyborg und der Wetterkontrollmaschine ja doch nach dem Umzug noch mit ein paar Psychopharmaka in den Griff kriegen. Das alles konnte schließlich nicht real sein.

Heute Nachtmittag kam es dann zu der folgenschweren Begegnung bei OBI, die ich an dieser Stelle schildern möchte. Ein hagerer Mann in einer dunklen Kutte trat plötzlich lautlos und irgendwie würdevoll hinter einem Stapel Alpina-Weiß hervor. Seine eisgrauen Augen fixierten mich und flößten mir augenblicklich einen merkwürdigen, wenn auch nicht unangenehmen Respekt ein. Ich verkniff mir den offensichtlichen Scherz ("Obi-Wan? Du hier?"), tatsächlich brachte ich überhaupt nichts hervor. Da sprach er mich an.

- Der Tag ist gekommen. Das Spiel neigt sich dem Ende zu. Es wird Zeit, dass Du alles erfährst.
- Dass ich was erfahre?
- Die Wahrheit. Die Antwort auf deine Fragen und den Grund für deinen Weg.

Ich wollte mich umdrehen und gehen, konnte aber nicht.

- Du wirst am Samstag umziehen, nicht wahr?
- Woher wissen Sie das?
- Weil wir hinter allem stecken. Wir haben lange daran gearbeitet, dass Du genau jetzt dort stehst, wo du stehst.
- Vorm Farbenregal bei Obi?
- Ich meine das metaphorisch.

Er wirkte ungeduldig; so als würde er sich wünschen, ich wäre jemand anderes.

- Unser Geheimbund hat sich seit Jahrtausenden dem Kampf gegen die große Zerstörerin verschrieben.
- Sie meinen meine....
- Sprich ihren Namen nicht aus. Seit vielen Jahren haben wir dein Leben kontrolliert und deine Schritte gelenkt. Entscheidungen beeinflusst und Wege geebnet. Das alles nur, damit du jetzt genau hier bist. Du bist unsere Waffe. Du wirst uns endlich zum Sieg führen. Nicht so wie all die anderen vor dir.
- All die anderen vor mir?
- Das ist jetzt unwichtig. Dir wird gelingen, was deinen Vorgängern versagt blieb.

Eine unerklärliches Grauen ergriff Besitz von mir.

- Du fragst dich, was wir alles getan haben.
- Ja. Als ich zum Beispiel damals durch diesen sonderbaren Postverlust ein halbes Jahr Wartezeit in Kauf nehmen musste und dadurch an meiner aktuellen Arbeitsstelle endete...
- Das waren wir.
- Als ich das Examen bestand obwohl ich für die Prüfung nicht gelernt hatte?
- Das waren auch wir.
- Als mein Umzug nach NRW scheiterte?
- Das waren auch wir.
- Wer gibt Ihnen das Recht, so über mich zu bestimmen? Was ist mit meinem freien Willen? Ich... Sagen Sie, wissen Sie eigentlich, dass es da bis vor kurzem eine Serie gab, die sich um das gleiche Thema drehte, nur auf einer Insel?
- Das waren auch wir.
- Sie haben also alles in meinem Leben beeinflusst, bis hin zu zeitgenössischen Fernsehproduktionen?
- Und Literatur. Und Kultur. Und Politik, Religion, Kunst. Und nun neigt sich der große Plan dem Ende.
- Was... was muss ich tun?
- Ausziehen. Durch den Akt des Auszugs wirst du den uralten Bann brechen, der ihre Macht erhält.
- Und das wird schwierig, weil...?
- Du wirst rechtzeitig verstehen. Wisse nur, es geht um nichts geringeres als das Schicksal des Menschengeschlechts. Nur eins noch. Ich werde dir nun zwei Dinge geben, die Du brauchen wirst, um deine Mission zu erfüllen.

Ich wartete atemlos.

- Hier gebe ich dir ein silbernes Kreuz. Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, rufe die Namen der vier Erzengel an - Michael, Gabriel, Raphael, Uriel - und es wird seine Magie freisetzen.
- Wie bitte? Das ist doch aus dieser Groschenroman-Serie. John Sinclair.
- Das waren auch wir.
- Verstehe.
- Ja.
- Gut. Und... und was ist das zweite?
- Was? Ach so, das zweite... ja, Moment... wo ist es denn... ah hier. Ein Schweizer Taschenmesser.
- Ein Schweizer Taschenmesser? Was zum Teufel soll ich mit einem Schweizer Taschenmesser?
- Muss ich dir denn alles erklären? Unglaublich. Ein Schweizer Taschenmesser ist seit jeher ein praktischer Helfer in allen Lebenslagen.

Ich starrrte ihn schweigend an. Er starrte zurück. Ich sah in seinen Augen, dass er die Wahl seines Geheimbundes auch nach all den Jahren nicht nachvollziehen konnte. Schließlich drehte er sich wortlos um und ging. Ich hörte ihn zu sich selbst murmeln:

- "Was soll ich mit einem Schweizer Taschenmesser? Was soll ich mit einem Schweizer Taschenmesser?" Unglaublich. Wie konnte der Orden sich nur für diesen Kretin entscheiden.

Dann verschwand er um die Ecke eines Regals. Ich blieb zurück und starrte auf den Stapel Alpina-Weiß. Ich versuchte mich zu erinnern, ob man zum Abdecken farbiger Töne einmal oder zweimal streichen muss.


2 comments:

Ein Kunde said...

Mal wieder eine sehr gelungene Darstellung! Hut ist ab! Frag mich aber wie du aus dem Bund wieder rauskommen willst, Neophrastus.

Vance Astro said...

Neo wer?

 
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